Sebastian Risse ist Besitzer eines Fahrrad-Ladens in Erfurt und er hat sich zum Ziel gesetzt aus seinen KundInnen echte Glücklichradler*innen zu machen.
Wir haben mit Sebastian zum Thema Komfort beim Radfahren gesprochen. Er gibt hilfreiche Tipps, was man bei Schmerzen nach kürzeren oder längeren Radtouren machen kann, worauf es bei der Wahl des richtigen Fahrrads ankommt und Sebastian erzählt uns außerdem, wie er zu seiner Begeisterung für Fahrräder gekommen ist.
Sebastian, du bist Inhaber eines Radladens und Experte für die individuelle Anpassung von Fahrrädern. Kannst du uns etwas über deinen Hintergrund erzählen und wie du zu deiner Leidenschaft für Fahrräder gekommen bist?
Hallo Sara, danke für deine Interviewanfrage.
Mein erstes richtiges Fahrrad war ein grünes Diamant mit 24-Zoll-Rädern. Das war etwa 1987. Schon früh begleitete mich mein Fahrrad überall hin – zur Schule und in der Freizeit. Andere machten ihren Mopedführerschein, ich fuhr Fahrrad. Mit 16 kaufte ich mir ein blaues Mountainbike aus dem OTTO-Katalog – also das analoge Amazon der 1990er-Jahre. Tiefer in die Materie tauchte ich mit 19 Jahren ein. Auf dem Weg zu meinem Bundeswehr-Einsatzort lernte ich im Zug Mirko kennen. Der wohnte nur 200 m entfernt von mir und schraubte sich bereits kreuz und quer durch seine Fahrräder. Der Funke sprang über. Nur drei Jahre später ließ ich mir meinen ersten Maßrahmen bauen.
Ich wollte gern meinen eigenen Laden haben oder mobil aus einem Sprinter heraus arbeiten. Aber etwas an dem Konzept passte noch nicht. Was das war, erkannte ich 2016. Vollkommen ohne Erwartung oder Vorkenntnisse nahm ich in Essen an einem Bikefitting-Seminar teil. Am ersten Abend wusste ich: Das ist, was ich machen will. Zwei Jahre später konnte ich meinen eigenen Laden ins Leben rufen.
Ursprünglich wollte ich Fahrzeugtechnik-Ingenieur werden. Das Analytische ist ein fester Teil von mir. Ich fand schon in der Schule Mathe und Physik interessanter als Deutsch und andere Sprachen. Studiert habe ich allerdings etwas Methodisches und für mich Hartes: Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften. Rückblickend war das ein Glücksgriff. Ich liebe das Transferieren der Erkenntnisse in andere Bereiche. Bikefitting ist für mich genau das: gelebte Mensch-Maschine-Interaktion. Ich brauche die Empathie, um menschliche Bedürfnisse zu verstehen und das Wissen für die technische Umsetzung.
Was sind deiner Erfahrung nach die häufigsten Ursachen für Schmerzen beim Radfahren?
Es beginnt mit einem Missverständnis: Weil das Fahrrad ein vergleichsweise einfaches technisches Werkzeug ist, nehmen Menschen an, es wäre auch einfach, das passende Fahrrad für sich auszuwählen.
Mein zweiter Aspekt hängt mit dem ersten zusammen: Auf den Herstellerwebseiten wird kommuniziert, mit der Eingabe von zwei oder drei Körperdaten ließe sich das optimale Fahrrad und dessen Größe bestimmen. Ich habe mir mal die Mühe gemacht, alle Aspekte zu notieren, die ich ändern kann, und kam auf 35 Parameter, die deine Sitzposition auf dem Rad beeinflussen. Dazu gehören sowohl technische als auch menschlich-individuelle Parameter. Das ist eine enorme Differenz. Bei drei Parametern kann sich jeder vorstellen, dass das lösbar sein kann. Bei 35 Parametern musst du ein Experte auf deinem Gebiet sein, um einzuschätzen, welche Auswirkungen eine einzige Änderung auf die anderen Parameter hat.
Der dritte Aspekt: Große Hersteller haben Profi-Teams, die deren neue Modelle testen und auf deren Rückmeldungen die Fahrräder angepasst werden. Nur entsprechen diese Profis nicht Michael und Lieschen Müller. Michael und Lieschen sitzen nicht wie die Profis den ganzen Tag lang auf dem Rad oder stärken sich im Fitnessstudio. Es gibt also einen enormen Fitnessgap, der bis auf die Serienmodelle durchschlägt. Kein Hersteller führt Datensätze ganz normaler NutzerInnen. Die machen allerdings über 95 % der KäuferInnen aus. Und die kleinen Hersteller kopieren die Geometriedaten der Rahmen und glauben, auf dem richtigen Weg zu sein. Das Ergebnis spüren die KundInnen mit jedem Kilometer.
An vierter Stelle stehen für mich die individuellen Unterschiede der NutzerInnen: Die geschlechtsspezifischen Unterschiede werden überbetont. Die Körpermaße, insbesondere die Länge des Oberkörpers und der Beine werden nicht thematisiert. Genauso sieht es mit dem persönlichen Fitnessgrad aus und ob du schon einmal eine Operation hattest. Das geht noch weiter, wenn du ein Handicap mitbringst.
Und zu guter Letzt wirkt sich auch der Einfluss der Medienrezensionen und die schlechte Ausbildung der HändlerInnen aus, die häufig lediglich durch die Marketingabteilungen der Hersteller oder Vertriebe geschult werden. Du hast am Fahrrad 5 Kontaktstellen (2 Füße, Hintern, 2 Hände). Ein gutes Produkt ist erst dann auch gut für dich, wenn es zu deiner individuellen Anatomie passt. Die großen Fahrrad-Hersteller bauen ein Modell 100.000-fach. Alle identisch. Wie oft begegnest du deinem Ebenbild in deinem Leben?
Der Präsident des Int. Bikefitting Institutes (IBFI) Lee Prescott fasste es meiner Meinung nach auf der Eurobike in Frankfurt perfekt zusammen: „Bikes are build to people, they are not build for people.“
Deine Schmerzen sind also im Ursprung des Fahrrades angelegt. Sie lassen sich auch an dieser Stelle angehen. Dafür wünsche ich mir von dir als Kunde konsum- und medienkritischer zu werden sowie deine Umwelt bewusster erleben zu wollen. Das wird ein harter und beschwerlicher Weg.
Welche Aspekte eines Fahrrads lassen sich individuell anpassen, um den Komfort zu erhöhen?
Das ist eine komplexe Frage. Lass es mich von vorn nach hinten und oben nach unten durchgehen:
Der Lenker: Die Serienlenker sind fast immer zu gerade ausgeführt – eher wie ein Besenstiel als eine Verlängerung deiner Arme. Das führt dazu, dass der Mediannerv deines Handgelenkes dauerhaft geknickt wird. Du merkst das, wenn deine Finger einschlafen.
Die Griffe: Mit der Wahl des passenden Griffs und der korrekten Einstellung bleibt das Handgelenk schmerzfrei und der Ring- und kleiner Finger schlafen nicht ein (Ulnarisnerv).
Der Vorbau: Durch die Wahl des Vorbaus lässt sich die Entfernung und Höhe des Lenkers an deine Oberkörper- und Armlänge anpassen. Bei korrekter Wahl entspannen sich deine Schultern. Du beugst Schmerzen im Nacken- und Schulterbereich vor.
Der Sattel: Landläufig der spannendste Teil am Fahrrad. Der Sattel ist oft zu weit hinter dem Tretlager montiert und in seiner Neigung falsch eingestellt. Ein zu weit hinten montierter Sattel führt entweder dazu, dass du auf die Sattelnase rutscht (in etwa 2/3 aller Fälle). In den anderen Fällen sitzt du zwar korrekt auf dem Sattelheck, das Knielot fällt allerdings vor der Kniescheibe durch die Pedalachse. Das bedeutet, du brauchst mehr Energie als nötig, um voranzukommen.
Die Neigung und Sattelhöhe beeinflussen die Stellung deines Beckens. Sind sie falsch eingestellt, sitzt du im Rundrücken oder Hohlkreuz, was häufig zu Schmerzen im Lendenbereich führt.
Die (Tret-)Kurbel: Unscheinbar und doch wichtig, sollte ihre Länge auf deine Beinlänge abgestimmt sein. Das wird sie meist nicht. Wie oft hat dich ein Hersteller nach deiner Beinlänge gefragt?
Es ist zu kostspielig, alle passenden Teile im Lager vorrätig zu haben. Insbesondere kleine Personen mit kurzen Beinen haben das Leidtragen. Sie stellen den Sattel höher und nach hinten, um Knieschmerzen vorzubeugen. Das führt dann zu einem Vorkippen des Beckens. Im Ergebnis haben sie statt Knieschmerzen dann Schmerzen im Intimbereich, weil der Sattel auf Penis und Hoden bzw. die Vulva drückt. Der Abstand der Kurbelarme ist ebenso wichtig. Die Füße sollten – quer zur Fahrtrichtung – senkrecht unter den Knien stehen.
Schmale Personen haben eher einen schmalen Stand, schwergewichtige Personen und Menschen mit O-Beinen einen breiteren. Das führt bei den Letztgenannten zum seitlichen Abkippen der Füße von der Pedale. Mit einer Änderung an Kurbel und/oder Pedal gehört auch diese Fehlhaltung der Vergangenheit an.
Gibt es bestimmte Fahrradtypen, die du Radtouristen besonders empfehlen würdest, und warum?
Grundsätzlich sind viele Fahrräder geeignet. Viele Reiseräder haben einen sogenannten Flachlenker, wie du sie auch an City- und Trekkingrädern hast. Im Gespräch mit KundInnen höre ich häufig, dass sie sich mehr Griffpositionen wünschen, um einseitige und dauerhafte Belastungen zu reduzieren. Dann werden da Griffstummel aka Barends drangeschraubt – ein Grauen für die Ergonomie. Für das Bremsen und Schalten musst du immer umgreifen – ein Grauen für die Fahrsicherheit.
Ich bevorzuge Fahrräder – Gravelbikes – mit einem Dropbar. Das sind Rennräder mit breiteren Reifen und der untere Teil des Lenkers ist weiter ausgestellt (breiter), um in unwegsamem Gelände mehr Sicherheit zu geben. Der größte Vorteil ist für mich, dass ich bis zu 5 Griffpositionen zur Auswahl habe. So kann ich umgreifen, wenn ich Abwechslung in der Hand benötige oder der Wind mir entgegenpfeift und ich mich im Unterlenker kleiner und windschlüpfriger mache. Beim Dropbar gibt es zwei grundsätzliche Bauarten: den klassischen und den modernen Stil. Der klassische Stil führt zu einem überstreckten Handgelenk. Sehe ich leider zu oft auch noch an nagelneuen Gravelbikes. Da hat der BWLer das letzte Wort gehabt – zum Nachteil des Kunden. Der moderne Stil ist ergonomisch um Welten besser und immer vorzuziehen.
Die Sub-Kategorie der Allroadgravel oder Reisegravel ist noch sehr klein. Insbesondere stört mich, dass bei fast allen Herstellern die Lenker zu tief montiert sind und damit die Alltagsposition zu sportlich daherkommt. Weil ich das auch in meinen Bikefittings gespiegelt bekomme und keine passende Alternative fand, entschloss ich mich 2021, ein komfortorientiertes Reise- und Alltagsgravel zu entwickeln. 2022 konnte ich das Ergebnis erstmalig meinen KundInnen anbieten. Aktuell arbeite ich an der zweiten Generation. Ich selbst fahre auch eines und möchte es nie mehr missen. Mein Mountainbike steht eigentlich nur noch im Keller. Mein Gravel ist einfach vielseitiger, ergonomischer und schneller.
Bei den Schaltungen sollte jeder nach eigenem Gusto entscheiden. Für den täglichen und den Reiseeinsatz sehe ich eindeutige Vorteile bei einem geschlossenen Getriebe, wie es z. B. Rohloff oder auch Pinion bauen. Bei beiden Getrieben nutze ich auch gern einen GATES-Riemen statt einer Kette – spart das Reinigen und Ölen. Alternativ darf es gern die gute alte Kettenschaltung sein. Beim Reisegravel setze ich oft auf 2×11 oder 2×12 Gänge, um auf der Ebene, am Berg und bei Wind immer den passenden Gang zur Auswahl zu haben.
Welchen Rat würdest du Radtouristen geben, die längere Strecken zurücklegen möchten, um Beschwerden vorzubeugen?
Mache auf jeden Fall ein Bikefitting, um Schmerzen und Fehlhaltungen vorzubeugen. Die Anzahl der Bikefitter in Deutschland ist noch überschaubar. Doch der Aufwand zahlt sich aus. Viele Bikefitter haben sich auf bestimmte Gruppen wie Triathleten, Rennradfahrer, E-Biker oder Normalnutzer spezialisiert. Bleib also guten Mutes, wenn der erste Anruf nicht gleich zum Termin führt. Gehe es auch rechtzeitig an. Oft beträgt die Wartezeit auch in der Nebensaison 4 bis 6 Wochen.
Bei einem Bikefitting wird anhand von bis zu 35 Parametern das Fahrrad optimal auf den/die FahrerIn eingestellt. Ein Bikefitting dauert etwa 2 bis 3 Stunden. Der Prozess berücksichtigt alle anatomischen Gegebenheiten und individuellen Bedürfnisse wie Trainingsziele, Schmerzen und Vorerkrankungen.
Als Ziel steht eine Fahrposition, die als Symbiose aus FahrerIn und Fahrrad maximale Effizienz, höchsten Komfort und effiziente Prävention verbindet. Alles, was am Fahrrad einstellbar ist, fließt ein, um die optimale Fahrposition zu identifizieren. Während des Bikefittings helfen Messtechniken und Videoaufzeichnungen, Körperbewegungen während des Fahrens aufzunehmen, zu interpretieren und mögliche Fehlhaltungen zu beheben.
Was ist dein liebster Fernradweg oder welcher steht noch ganz oben auf deiner To-Do-Liste?
Auf Deutschland bezogen, möchte ich gern einmal das Grüne Band, also die ehemalige innerdeutsche Grenze abfahren. Einen besonderen Reiz übt auf mich auch die Fahrt entlang der Ostsee von Usedom bis nach Flensburg aus, mit all ihren Inseln und Halbinseln. Wenn ich das geschafft habe, kann ich gleich noch den Rest der Ostsee abfahren.